SARAJEVO 1995 | People at wartime

Ein Krieg mitten in Europa. Eine Erinnerung. | Text & Fotografien © Peter Christmann

Am 22. Dezember 1995 breche ich auf, um nach Sarajevo, der eingekesselten Stadt in Bosnien- Herzegowina zu gelangen. In Frankfurt besteige ich einen Bus und bin in dem Moment schon fast dort angekommen, spüre den Krieg. Flüchtlinge, die aus Sarajevo und aus Bosnien stammen, wollen ihre Familien besuchen. Zurück in ein vom Krieg gezeichnetes Land, aus dem die meisten von ihnen vor drei oder vier Jahren geflüchtet sind.
Zum ersten Mal zurück in die verlassene Heimat, um mit denen, die dort gebliebenen sind, die sie vermissen, den Familien, den Verwandten und Freunden, Weihnachten zu feiern. Zurück, in eine immer noch belagerte Stadt, nach Sarajevo, die Kulturmetropole Bosniens, die Stadt in der elf Jahre zuvor die Olympischen Winterspiele stattfanden und die seit April 1992 von bosnischen Serben und Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs permanent belagert und beschossen wird. Ich spüre die Nervosität, die Angst, die Traumata meiner Mitreisenden, in dem mit Menschen und deren Gepäck voll gestopften Bus. >>>

Zügig geht die Fahrt über die Autobahn nach Süden, über die Alpen, durch Österreich und schon bald darauf ist Slowenien erreicht. Die Fahrt durch die Krajina, die auf unserer Fahrt folgt, zeigt die ersten Gräuel des Krieges: grenzenlose Zerstörung und gespenstische Ruinenlandschaften. Kleine zerstörte Dörfer – menschenleer. Entsetzte und angstvolle Blicke starren aus dem inneren des Busses in die surreal anmutende Außenwelt. Nun halten wir immer wieder an allen möglichen Kontroll- und Grenzposten. Lange Wartezeiten, Schikanen, die wir über uns ergehen lassen müssen, in einem Teil Europas, in dem neue Grenzen gezogen werden, sich ein erstarkter Nationalismus ausbreitet. Wir, unsere Busgemeinschaft auf Zeit, kann all die Kontrollen nur stoisch über sich ergehen lassen, machtlos sind wir den Soldaten ausgeliefert, die mit Maschinenpistolen durch den Gang und von Platz zu Platz gehen, Ausweis kontrollieren, unwirsch Fragen stellen. Wer die Waffe in den Händen hält, hat das Recht auf seiner Seite – das Recht des stärkeren, des mächtigen. Es wird geweint, viel geraucht und mitgebrachte Lebensmitteln gegessen. Ich bin von einer herzlichen Gastfreundschaft umgeben und bekomme von allen Seiten etwas essbares gereicht. Herzlich bin ich, als einziger Deutscher im Bus, in die Gemeinschaft der Heimkehrer aufgenommen worden. Die Luft im Bus ist stickig, heiß und feucht – man könnte sie mit dem Messer schneiden, so dicht ist der Tabakqualm. Rauchen beschwichtigt die Emotionen, dämpft die Angst. In dem Moment, wo ich mich in den Bus setzte, wurde ich vom Nichtraucher zum Raucher. Gemeinsamer Zigarettenkonsum, als Zeichen der Zugehörigkeit in dieser kleinen Schicksalsgemeinschaft. Kollektiv qualmen wir Zigaretten, unterwegs auf dem Weg in eine kriegsversehrte Stadt. Auf meinem Sitz dämmere ich, mit verrenkten, müden Gliedmaßen, vor mich hin, bin in Tag-und Nachtträumen gefangen, während der Dieselmotor monoton schnurrt. Wenn ich ab und an die Augen öffne, sehe ich Hinweisschilder mit Städtenamen, die ich vor Beginn des Krieges kaum kannte und die nun ein erschauderndes Gefühl der Angst hervorrufen, weil sie durch Nachrichten über Gräueltaten, die sich in den letzten drei Jahren dort abgespielt haben, eine traurige Berühmtheit erlangt haben: Mostar, Banja Luka, Goražde, Srebrenica, Sarajevo. Und wieder Namen, die sich einreihen in eine immer länger werdende Liste von Orten, die als Synonym für Tod, unfassbar grausame Taten von Menschen stehen, welche mit Angst und Schrecken besetzt sind, wie auch Stalingrad, Mỹ Lai, Phnom Penh, Beirut. Die Liste wird mit dem Fortlauf der Geschichte, bedauernswerterweise und scheinbar unvermeidlich, länger und länger werden. Kroatien. Braun und verdorrt recken sich die gekrümmten Überbleibsel einiger Maispflanzen aus einem abgeernteten Acker, der mit einer dünnen Schneeschicht überzogen ist. Auf einem weiteren Feld, das ein paar hundert Meter weiter gelegen ist, stehen, dicht an dicht, dunkle, schlichte Holzkreuze. Frische Gräber und Mahnmale des Schreckens in einer winterlichen Landschaft, welche mich an ein Gemälde von Bruegel erinnert. Im Bus herrscht Totenstille. Menschenleere Dörfer, von Einschüssen übersäte Häuser, deren Wände rußgeschwärzt sind, ziehen vorbei. „Tschetniks!“, sagt Amina, die ihren Sitz hinter mir hat und will damit auf die Täter dieser Zerstörung hinweisen. Meine Kleidung klebt nach der nicht enden wollenden Fahrt und den vielen

Zwangsstopps, am Körper. Die Scheiben des Bussen sind beschlagen. Amina malt mit ihren Fingern eine Sonne an das Fenster. Der Name Amina bedeutet Frau des Friedens, der Harmonie, der Sicherheit. Schön, dass sie in meiner unmittelbaren Nähe ihren Platz hat. Nach 40 Stunden Fahrt in dem Bus stoppt dieser nun, am vorläufigen Ziel meiner Reise. Zenica.
Ich bin angekommen – für ́s erste. Endlich. Es ist drei Uhr in der Nacht. Ein hilfsbereiter Polizist, den ich anspreche, bringt mich zu der Wohnung von Mihat, dem Bruder von Mohammed, einem Freund aus Kassel. Die Coach im kleinen Wohnzimmer ist bereits ausgeklappt – ich lasse mich müde darauf fallen und bin überglücklich, dass ich mich endlich, meiner ganzen Körperlänge nach, ausstrecken kann. Am nächsten Morgen erwartet mich ein fürstliches Frühstück: Kaffee und Omelett. Edin und Boban kommen dazu, holen mich mit einem VW-Käfer ab. Ich habe für die Beiden, die in der Stadt das Designstudio „FLAŠ“, in der Kulina Bana betreiben, einen Scanner mitgebracht, den ich in Deutschland gekauft und durch unzählige Grenzkontrollen geschmuggelt habe. Er wird sofort installiert und funktioniert glücklicherweise. Die Freude darüber ist groß. „Es ist seltsam, was wir hier, mitten im Krieg, machen. Wir gestalten, schaffen etwas Schönes, haben uns nun noch neue Technik gekauft und das, obwohl ein paar Meter entfernt Granaten einschlagen“, beginnt Boban das Gespräch, nachdem sein neues Hightech-Gerät den ersten Scan geliefert hat. „Die Menschen im Krieg sind interessant, sehr interessant. Ein jeder entwickelt seine Art von Galgenhumor, sonst erträgt man es einfach nicht“, fährt er fort. Wir leeren ein paar Büchsen Bier im Studio der zwei Gestalter und gehen anschließend ein paar hundert Meter weiter in Edins Wohnung. Er stellt Käse auf den Tisch, Wursthäppchen, Fladenbrot und entkorkt eine Flasche tschechischen Rotwein. Via Satellit erschallt der Tenor von Plácido Domingo im Wohnzimmer und sein „Stille Nacht, heilige Nacht“ tönt durch die kleine Dachgeschosswohnung mitten in Bosnien. Der vier Monate alte Spross von Edin und seiner Frau Darina schreit. Er wird von Darina gewickelt, während Edin die zweite Flasche Wein öffnet. Wir feiern den „Heiligen Abend“ – Frohe Weihnachten allerseits! „Wann ward ihr das letzte mal in Sarajevo?“, will ich von Darina wissen. „Schon seit mehr als drei Jahren nicht mehr. Sarajevo ist jetzt anders, nicht mehr wie früher. Wir hatten viele Freunde dort. Die sind jetzt alle fort. Die sind in Deutschland, Kanada und überall in der Welt. Eine Stadt ist nicht mehr Deine Stadt, wenn Du dort keine Freunde mehr hast.“ Ich erzähle von meinen Erlebnissen, die mich damals sehr aufwühlt haben, als ich als Fotograf die Geschehnisse bei der Öffnung der innerdeutschen Grenze und den Fall der Berliner Mauer dokumentiert habe. Sie erzählt sehr emotional von ihren Kriegserlebnissen in ihrer Stadt. Wir müssen schließlich beide weinen und trinken an diesem Abend alle zusammen noch einige Flaschen Rotwein, um die Erinnerungen zu ertränken. Boban, Edin, Darina, Mihat und ich. Am frühen Morgen des ersten Weihnachtfeiertags verlasse ich die Wohnung von Mihat und sitze kurz darauf wieder in einem Bus, welcher mich die letzten 80 Kilometer in den Kessel von Sarajevo bringen soll. Ich spüre ein flaues Gefühl in meiner Magengegend und meine Hände zittern, als ich aus dem Busfenster ein letztes Foto von Zenica mache. Der Busfahrer verkündet, kurz nach der Abfahrt, dass die Route nun nicht wie vorgesehen, über den Berg Igman, sondern via Europastraße Nr. 73 und über Visoko Grad von Norden nach Sarajevo führen wird – aus Sicherheitsgründen und aus aktuellem Anlass, wie er betont. Am Berg Igman wird wieder gekämpft. Ab Visoko Grad werden wir dann von zwei gepanzerten IFOR- Fahrzeugen eskortiert. Im Bus herrscht eine gespenstische Fröhlichkeit, die einen spürbaren und bitteren Beigeschmack hat und ganz offensichtlich dazu dient, die allseits vorherrschende Angst und die dunklen Gefühle, während der Fahrt ins Ungewisse, zu überspielen. Vor mir in der Sitzreihe, eine Mutter mit ihrem 10 jährigen Jungen. Wir kommen ins Gespräch. Sie raucht viel, ich rauche zu viel. Beide kommen aus Österreich und sind zum ersten Mal seit vier Jahren wieder in Bosnien, wollen ebenfalls nach Sarajevo. Die Mutter zittert, ist kaum in der Lage einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Ihr Sohn ist redselig und erzählt mir, mit breitestem österreichischem Dialekt, von der Angst und Trauer seiner Mutter. Immer wieder sieht sie, begleitet von nervösen Kopf- bewegungen, aus dem Fenster. Nach dem letzten Kontrollposten, den wir vor der Einfahrt in die Stadt passieren, bricht sie in Tränen aus, lacht plötzlich wieder hell auf und weint abermals. Die Begleitfahrzeuge der IFOR haben uns bereits weit vor Sarajevo verlassen. Ein Bus mit unbewaffneten Zivilisten fährt in eine vom Krieg verwundete Stadt, wo in den, sie umgebenden

Bergen, bewaffnete Menschen lauern, deren Ziel es ist andere Menschen zu jagen und zu töten, Menschen, die sie kollektiv zu ihren Feinden erklärt haben. „Alle Verwandten sind tot.“, sagt der Junge plötzlich in die Stille hinein. Wir erreichen den Busbahnhof. Alle entsteigen dem Bus, ich nehme Abschied und wünsche jedem viel Glück. Unmittelbar neben dem Busbahnhof befindet sich das Hauptpostamt, welches starke Spuren von Granatexplosionen aufweist. Auf dem Dach weht die französische Fahne. Barrikaden aus Sandsäcken, Stacheldrahtrollen, Panzerigel bestimmen das Straßenbild. Wo hin ich auch schaue, erblicke ich zerschossene und von Ruß geschwärzte Gebäudefassaden. Graue Tristesse. Schneematsch, in schmutzigem Grau, säumt die Ränder der kaum befahrenen Straßen. Gehwege, Plätze, Verkehrsstraßen weisen Wunden auf sind übersät von Einschlägen der Mörsergranaten, die an die Blüten von Rosen erinnern und sind deshalb, von den Einwohner Sarajevos, mit diesem poetischen Namen bedacht worden. Sarkasmus, um den tödlichen Detonationen mit Wortkunst die Stirn zu bieten. Schiffscontainer stehen aufgereiht und übereinander gestapelt an Straßenkreuzungen und Plätzen, um Menschen vor Scharfschützen zu verbergen. Von unendlich vielen Einschüssen durchsiebt und oftmals aufgebläht durch die Explosionen von Mörsergranaten, erinnern sie an Tierkadaver, die schon lange in der Sonne gelegen haben, strahlen rot, im Kolorit des rostenden Stahls, ihrer ursprüngliche Lackierung beraubt. Mit weißer Farbe und vielfach an Wände gepinselt, sind die Worte zu lesen: „PAZI SNAJPER“ – eine Warnung vor den Mördern mit den Dragunow-Scharfschützengewehr, die noch aus 800 Meter Entfernung ihre tödlichen Schüsse abfeuern können und in hohen Gebäuden, hinter glaslosen Fenstern auf Beute lauern. Ein Graffiti, das an den Brückenpfeiler einer Hochstraße gesprüht wurde, begrüßt mich mit dem Satz: „Dobro došli u pakao“- willkommen in der Hölle. Die kommenden zwei Wochen, die ich mich in der belagerten Stadt aufhalte, um das Unfassbare zu begreifen, indem ich es fotografiere und darüber schreibe, geben einen kleinen Blick frei, auf ein Leben in der Hölle, ein Blick auf Menschen, die viele Jahre die Grausamkeiten des Krieges, während der Belagerung ihrer Stadt, durchlebt und überlebt haben. Menschen in Zeiten von Krieg.

„Ich wurde ohne Grab geboren, dieser göttliche Körper wird niemals sterben. Er wurde nicht geboren, um sich nur am Duft der Blumen zu erfreuen, sondern um Brände zu stiften, zu töten und alles in Asche zu verwandeln.“ (Radovan Karadžić, Anführer und Ideologe der bosnischen Serben im Bosnienkrieg, Psychiater und Dichter, als Kriegsverbrecher vor dem UN-Tribunal in Den Haag angeklagt. Karadžić wurde in dem Prozess beschuldigt, sogenannten „ethnische Säuberungen“ und Übergriffe auf bosniakische und kroatische Zivilisten geplant und befohlen zu haben. Im März 2019 wurde er wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit seinen Schriften und Reden versuchte Karadžić das Feindbild, das manche Serben von den Osmanen als einstigen Herrschern in Südosteuropa hatten, auf die – ebenfalls muslimischen – Bosniaken zu übertragen). Geschichte auch hier als Argument, um alten Zustände wieder aufleben zulassen.

„In den Kriegen offenbart sich vor allen Dingen die menschliche Dummheit. Die menschliche Dummheit an sich ist eine elementare, riesige, alltägliche Erscheinung, aber es sieht so aus, als wirkte der Krieg auf die menschliche Dummheit wie ein Gewitterguss auf Pilze: sie schießt gespenstisch überall aus dem Boden.“ (Miroslav Krleza, der ein bedeutender jugoslawischer und kroatischer Schriftsteller war und auch den Satz prägte: „Europa ist ein Monster, das Mozart spielt.“ In einem seiner Romane, „Bankett in Blitwien“, beendet einer der Protagonisten, ein sogenannter Linksliberaler, seine politische Karriere in völliger Resignation. Und er schließt seine tragische Bilanz mit der Frage: „Was bleibt dann noch übrig? Eine Schachtel voll Bleibuchstaben, und das ist nicht viel. Aber es ist das einzige, was der Mensch bis heute als Waffe zur Verteidigung seiner Menschenwürde erfunden hat.“

Die 1.425 Tage anhaltende Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben und Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs, fielen etwa 11.000 Menschen zum Opfer, 56.000 wurden, teilweise schwer, verletzt. Es war die längste Belagerung im 20. Jahrhundert, die am 5. April 1992 begann und am 29. Februar 1996 endete. Kaum ein Ereignis hat die Öffentlichkeit seit dem 2. Weltkrieg so stark erschüttert, wie der Kriegsausbruch im ehemaligen Jugoslawien im Jahre 1991. Die Medien überboten sich gegenseitig mit Berichten über Deportationen, Menschenrechtsverletzungen, Todeslager, ethnischen Säuberungen, systematischen Massenvergewaltigungen, etc. Die Terrorisierung und Vertreibung der Zivilbevölkerung sowie das Ausmaß der Zerstörungen, um aus einem Vielvölkerstaat ethnisch homogene Nationalstaaten zu schaffen, erschweren das Verständnis für einen solchen Krieg. Wie war es möglich, dass mitten in Europa gegen Ende des 20. Jahrhundert, ein solch barbarischer Bürgerkrieg – eine derartige Dummheit – entstehen konnte? Dies Frage stellt sich nun erneut, mit dem völkerrechtswidrigen Überfall von Putins Armee auf die Ukraine. Und wieder ein Krieg mitten in Europa im 21. Jahrhundert. Barbarei und Gräuel kennen keinen Halt in angeblich fortschrittlichen Zeiten. Wenn die Geschichte eines lehrt, dann ist es die Tatsache, dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernt.

© Peter Christmann