NEPAL – after the earthquake

NEPAL, April 2016: Der alte Königspalast in Kathmandu und der gesamte große Platz davor liegen zum großen Teil in Trümmern – immer noch. Es hat den Anschein, als wenn das schwere Erdbeben erst vor ein paar Tagen seine verheerende Wirkung entfaltet hätte. Mit chinesischer Unterstützung, so verrät es es das überdimensionierte Baustellenschild, soll nun ein Jahr nach dem Beben mit den Aufbauarbeiten begonnen werden. >>>

Von einer Dachterrasse blicke ich auf den Durbar Square, den Platz auf dem sich der alte Königspalast, der Hanuman Dhoka und etliche Tempel und Heiligtümer, die vor allem aus der Zeit der Königreiche der Malla-Dynastie vom 12. bis 18. Jahrhundert stammen, befinden – oder befanden, muss man leider und zutreffend sagen. Der Königspalast weist schwere Schäden auf. Rote Ziegelsteine liegen chaotisch verstreut herum, improvisierte Stützpfeiler an den Außenwänden sollen verhindern, dass noch mehr Teile des Gebäudes einstürzen. Rote Warnschilder mit dem Aufdruck: „Restricted Zones“ warnen vor Betreten der Bereiche, die stark einsturzgefährdet sind. Grüne Schilder auf dem Königsplatz, auf denen: „Safe Zones“ zu lesen ist, sind nach wie vor vermeintlich sicher. Viele der mehr als 50 Pagoden, Tempel und Paläste sind zerstört oder stark beschädigt. Der Taleju Tempel, der höchste Tempel auf dem Platz, den ein dreistufiges Pagodendach krönt, ist wie durch ein Wunder stehen geblieben. Er ist der Göttin Taleju gewidmet, welche die Schutzgöttin des ganzen Kathmandutales ist. Der Platz, der auch Basantapur Durbar Kshetra genannt wird und auf dem in der Vergangenheit unzählige Händler ihre Souvenirs anboten, war von Touristen bevölkert – nun herrscht gespenstische Leere. Ein Soldat hockt auf einem Stuhl vor einen provisorisch aufgestellten Wachhäuschen am südlichen Teil des ehemaligen Königspalast.
Der Kasthamandap Tempel, den ich, würde er noch stehen, links von mir erblicken könnte, wurde angeblich aus dem Holz eines einzigen Baumes gefertigt. Mit drei Dächern, in Pagodenbauweise errichtet, ist er auch der Namensgeber der Nepalesischen Hauptstadt. Nur noch vor meinem geistigen Auge erscheint mir dieser Tempelschrein, der den Durbar Square durch seine architektonische Besonderheit unübersehbar prägte. Alles liegt im wahrsten Sinne des Wortes immer noch am Boden. Mit der Rekonstruktion und dem Aufbau wurde noch nicht begonnen. Das einzige Positive daran ist, dass während der Aufräumarbeiten geklärt werden konnte, dass der Kasthamandap im 7. Jahrhundert während der Lichhavi-Ära gebaut wurde – was bisher nicht ganz geklärt war.
Für die Bewohner von Kathmandu war das Erdbeben nicht nur eine schreckliche humanitäre Katastrophe, sondern hat gleichermaßen einen maßlosen kulturellen, sowie spirituellen Verlust verursacht. Einen Wiederaufbau kann ich mir bei diesem Anblick und dem Ausmaß der Zerstörung nur schwer vorstellen und wenn, dann wird der Wiederaufbau viel Zeit beanspruchen. Noch dazu ist Nepal eines der ärmsten Länder der Welt und auf ausländische Hilfe angewiesen, um diese Mammutaufgabe zu bewältigen. Es gab in der Vergangenheit immer wieder starke Erdbeben – das letzte im Jahr 1934 – auch damals gab es gewaltige Schäden und viele Tote zu beklagen. Beim jüngsten Erdbeben mit der Stärke von 7,8 auf einer Skala von 10, am 25. April 2015 mit etlichen Nachbeben, die bis Mitte Juni 2015 folgten, starben in dem Himalaja-Staat rund 10.000 Menschen an dessen Folgen. Durch die Beben wurde Kathmandu um 1,5 Meter nach Süden verschoben und um einen Meter angehoben. Das Ausmaß, welches in den Medien oft nur in nüchtern wirkenden Zahlen versucht wird zu beschreiben, wird verständlicher wenn man auf die kaum fassbaren Schicksale, die sich dahinter verbergen, blickt.
In der Erzählung meines nepalesischen Freundes Tej, den ich erst ein paar Tage nach Beginn der Katastrophe telefonisch erreichen konnte, schildert er mir am Telefon, wie sich der Straßenasphalt stark auf und ab bewegte, wie beim Wogen großer Wellen auf dem Meer. Es war ihm nicht möglich stehen zu bleiben, er wurde zu Boden geschleudert. Wochenlang kampierte er mit seiner Familie auf der Straße, aus Angst, dass ihr Haus jederzeit einstürzen könnte. Zum Glück haben alle überlebt, aber ihre Habe verloren und unendlich viel Leid erfahren.
In vielen weiteren Teilen des Landes sieht es ebenso aus, als habe das Erdbeben erst vor wenigen Tagen das Land erschüttert. Vielerorts liegen auch ein Jahr nach der Katastrophe Trümmer herum und es stehen Ruinen. Kein Wunder, bei den gewaltigen Auswirkungen, denen alleine 800.000 Gebäude zum Opfer fielen. Unzählige Male bin ich in den vergangenen Jahren bei meinen Besuchen in Nepal die alte knarrende Holztreppe des engen Treppenhauses des alten Königspalastes empor gestiegen, habe dabei die alten Holzbalken immer wieder mit den Händen abgetastet, um dann schließlich durch ein winziges Fenster auf den Durbar Square zu blicken. Ein erhabener Ausblick erbot sich aus dieser erhöhten Perspektive auf den Platz und umliegende Tempel, wie ihn sonst nur die vielen Tauben haben. Hunde dösen in der grellen Mittagssonne, Menschen schreiten gemächlichen Schrittes über den großen Platz. Das Leben geht weiter. Nachdem ich gefrühstückt habe, verlasse ich das „Roof-Top-Restaurant“, die Dachterrasse des „Vishram“. Der Gang der Dinge nimmt seinen Lauf und er wird sich auch weiterhin nicht nach unseren Wünschen und Hoffnungen richten. Ich gehe gemächlichen Schrittes durch die Gassen der Altstadt in Richtung Asan Tole, des zentralen Markplatzes der Altstadt von Kathmandu. Überall haben die Götter und Göttinnen Risse bekommen und teilweise schwere Wunden erlitten, dadurch, dass sich aufgestaute Spannungen zwischen der Indischen und Eurasische Erdplatte in 18 Kilometern Tiefe plötzlich entladen haben. Schon seit etwa 50 Millionen Jahren werden sie von gewaltigen Kräften gegeneinander gepresst und dabei bewegt sich die indische Erdkrustenplatte etwa vier Zentimeter pro Jahr nach Norden.
In der Summe macht das bis jetzt 2000 Kilometer. Es wird, und dass ist die traurige und unausweichliche Tatsache, wieder ein Erdbeben geben – nur zu welchem Zeitpunkt ist nicht gewiss. Nepal befindet sich in einer geologischen Hochrisikozone, der Grenze zweier tektonischer Platten, wie es nüchtern und im Jargon der Geologen heißt. Tektonische Verschiebungen sind gnadenlos.
Alles auf diesem Planeten ist in permanenter Bewegung.

Gemüse, Obst, Gewürze und getrockneter Fisch wird an den zahlreichen Ständen auf dem Markt angeboten. Ein reges Treiben herrscht hier, wo auch bedeutende Tempel ihren Platz haben. Einer von ihnen ist dem Gott mit dem Elefantenkopf – Ganesha, Glücksgott und Sohn von Shiva und Parvati geweiht und der zweite der Göttin Annapurna gewidmet, der Göttin der Fruchtbarkeit, der Ernte und des täglichen Brotes, die dafür Sorge tragen soll, das niemand Hunger leidet. Kurz bevor die Sonne untergeht versorgen sich die Menschen in Kathmandu mit dem Notwendigen für das bevorstehende Abendessen. „We Will Rise Again“ – „Wir werden uns wieder erheben“ – ist die hoffnungsvolle Botschaft der Nepalesinnen und Nepalesen, nach der gewaltigen Naturkatastrophe. Ein Straßenhändler kommt flinken Schrittes auf mich zu, da ich als Tourist zur Zeit eine eher seltene Spezies bin. Er hält mir einen geflochtenen Korb vor, der bis zum Rand mit kleinen Döschen des hier überall angebotenen Tigerbalsam angefüllt ist. Tiger Balm, das Allheilmittel, die Wunderdroge, die bei Erkältungen, Schmerzen, Insektenstichen hilft. Mit einem verschmitzten Lächeln und Augenzwinkern wird von den fliegenden Händlern oft ein anderer Aspekt hinzugefügt: „It´s also good for your manpower – you now?“

Am nächsten Tag begebe ich mich an den heiligen Ort der Buddhisten, zur großen Stupa von Bodnath, die etwa 10 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, im Nordosten liegt. Sie ist eines der bedeutendsten Ziele für buddhistische Pilger in Nepal und der umliegenden Himalaya-Region.
Hier residiert der Cinya-Lama, der dritthöchste Würdenträger der Tibeter nach dem Dalai Lama und dem Panchen Lama. Es ist bereits am frühen Abend und etliche Gläubige umschreiten die Stupa im Uhrzeigersinn zur sogenannten Kora, drehen dabei eigene Gebetsmühlen oder stoßen die in Nischen eingelassenen Gebetsmühlen während ihrer Umrundung an. Vielfach wird dabei das Mantra „Om mani padme“ von den gläubigen Buddhisten gemurmelt.
Die Stupa ist eine Baustelle – eine recht geordnete und gut organisierte, wie es scheint und somit ganz in der Tradition der Stupa, deren Grundriss und vierstufigen Sockel einem tibetischen Mandala, welches ebenfalls einen geometrischen Aufbau hat, nachempfunden ist.
Das große Beben hat die Harmika, den quaderförmigen Aufbau, der mit den allsehenden Augen des Buddhas bemalt war und die in alle vier Himmelsrichtungen blickten, sowie den dreizehnstufigen goldenen Turm der spirituellen Erkenntnis, mit dem abschließenden Schirm der Erleuchtung, dem Nirwana, vom Rest des Bauwerkes, der Garbha, der halbkugelförmigen Kuppel, abgetrennt. Nun sind die Überreste des einst imponierenden Heiligtums von einem Bambusgerüst, einem Spinnennetz gleich, eingerüstet. Unzählige Arbeiter turnen auf ihm herum und sind emsig mit Bauarbeiten beschäftigt. Auf meine Frage an einen der Arbeiter, der ein Trikot mit dem Aufdruck „Bayern München“ trägt, wie viel Zeit der vollständige Wiederaufbau benötigen wird, bekomme ich von ihm die knappe und überzeugend wirkende Antwort: „Six month only.“ Ein dunkelrotes Gewand mischt sich unter die, von ihren Sponsoren ebenfalls mit roter Oberbekleidung bedachten, Bauarbeiter. Ein Mönch erscheint auf der Baustelle, schaut sich bedächtig um und erteilt im ruhigen Ton knappe Anweisungen. Die Bauaufsicht hat hier – anstelle eines Architekten – offensichtlich ein Diener Buddhas. Ich reihe mich ein in den Strom der Gläubigen, lasse mich mit ihm treiben und umrunde die Überreste der Stupa einige Male. Die Dämmerung setzt ein. Das „Best View Restaurant“ hält was es verspricht und so mache ich einige Fotos aus der Vogelperspektive von der Stupa, in einem Zustand, wie ich sie noch nie zuvor fotografiert habe. Stein auf Stein wird von zahlreichen Händen aufeinander geschichtet, um dem Heiligtum sein ursprüngliches Antlitz wieder zu geben und zu neuem spirituellen Leben zu erwecken. Der Ort, das habe ich immer wieder bei meinen häufigen Besuchen in der Vergangenheit feststellen können, strahlt eine großartige Ruhe und tiefen Frieden aus, der sich in angenehme Weise auch heute wieder auf mich überträgt.
Ich genieße einen Marsala Tea, blicke hinauf zum klaren Himmel, an dem sich zaghaft die ersten Sterne zeigen. Plötzlich vernehme ist ein dumpfes Grollen, kann mir aber nicht vorstellen, dass ein Gewitter naht, da der Himmel wolkenlos ist. Das Grollen verstärkt sich, wirkt zunehmend unheimlicher. Nach ein paar Sekunden stelle ich fest, dass es von unten, quasi aus der Erde zu kommen scheint. Ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu gewinnen, eine neue Überlegung anzustellen, vibriert plötzlich Tasse und Teekanne auf dem Tisch, senden klirrende Töne aus. Der Stuhl auf dem ich sitze gerät in Schwingung, überträgt das Zittern in meinen Körper. Das gesamte Gebäude, auf dem ich mich, im vierten Stock, auf der Dachterrasse befinde, fängt an zu schwanken. Ein seltsames „Klick, Klack“, welches ich nicht zuordnen kann, dringt an meine Ohren. Da sehe ich, wie das Nachbargebäude, welches die gleiche Höhe aufweist, hin und her wankt, wie ein Spielzeug. Das ist also die Ursache dieses ungewöhnlichen, nie zuvor gehörten Geräusches, welches gespenstisch und Unheil verkündend ist. Mein Herzschlag spüre ich mit einem Mal stark pochend und bis hinauf zum Hals. Was ist zu tun, wie kann ich dieser misslichen Lage entfliehen, was ist der schnellste Weg aus dem Gebäude heraus, hinaus auf den großen Platz? Etliche Fragen schießen mir in kürzester Zeit durch den Kopf. Allerdings bin ich wie gelähmt und fühle mich nicht handlungsfähig, habe keine Antwort parat, die mich aus dieser prekären Situation bringen könnte, einem unmittelbar eingetreten Zustand, der lebensbedrohlich erscheint, der unbeweglich macht und dem ich mich hilflos ausgeliefert fühle. Die eigene unbedeutende Existenz wird in diesem Moment mit einem Schlag offensichtlich und ohnmächtig folgt darauf die bittere Erkenntnis, dass man eine solche Situation keinesfalls kontrollieren kann – ihr einfach nur ausgeliefert, dem sogenannten Schicksal wehrlos ergeben ist. So plötzlich das bedrohlich wirkende tiefe Grollen der Erde begonnen hatte, so unversehens das Gebäude zu wanken begann, so abrupt endet mit einem Schlag das bis dahin nie erlebte Szenario – das furchterregende Ereignis. Stille – eine unwirklich erscheinende Stille folgt. Die wenigen weiteren Gäste auf der Dachterrasse und die drei Kellner, die wie angewurzelt stehen, wirken wie Puppen einer Staffage in einem surrealen Theaterstück. Dann ertönt schlagartig ein Geschrei aus zahllosen Kehlen, welches vom Platz der Stupa herauf nach oben dringt. Wie in Zeitlupe erhebe ich mich aus meinem Stuhl, bewege mich vorsichtigen Schrittes zu der Brüstung der Terrasse, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen. Zu Hunderten sind Menschen aus ihren Häusern geströmt, in der Hoffnung auf Sicherheit im Freien. Sie haben ihre Behausungen, die sonst Schutz vor den Widrigkeiten der Natur bieten, fluchtartig verlassen, da sich diese schlagartig und unerwartet in Todesfallen verwandelt haben. Oft genug haben die hier Lebenden dieses „Naturphänomen“, das ihre Existenz immer wieder bedrohte, im vergangenen Jahr bei dem großen Beben und den zahlreichen Nachbeben durchlitten.
Was bleibt und folgt ist – wie so oft – die Hoffnung und der Glaube. Die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden möge. Der Glaube daran, dass sich eine solche Katastrophe niemals wiederholt. Das Wissen etlicher Geologen allerdings beinhaltet die einfache Tatsache, dass es wieder zu einem Erdbeben kommen wird. Wann allerdings ist ungewiss. Irgendwann wahrscheinlich – so, wie das vergangene Beben der Erde, die den kleinen Himalayastaat erzittern ließ und großes Leid brachte, auch lange vorhergesagt war.
In einer Schlucht, etwa 20 Kilometer südwestlich von Kathmandu befindet sich Dakshinkali, das für gläubige Hindus zu den bedeutendsten Heiligtümern zählt. Die Göttin Kali, wörtlich „Die Schwarze“ und Göttin der Zerstörung und der Erneuerung, ist eine mächtige Göttin, die auch Wünsche erfüllen kann, ist hier in Form einer Statue aus Stein präsent. Zweimal in der Woche kommen Gläubige in Scharen, um ihr Opfer zu bringen, sie zu besänftigen, ihr die Wünsche, die eigenen Unversehrtheit und das persönliche Glück betreffend, abzuringen, ein Erdbeben vom Kathmandu-Tal abzuwenden. Das Blut unkastrierter männlicher Tiere (meist Ziegenböcke oder Hähne), welches über ihr Abbild gespritzt wird, nachdem ein Priester den Tieren die Kehle durchtrennt hat, soll sie milde stimmen – ihren Zorn besänftigen. Kali ist allerdings nicht nur die Göttin der Zerstörung und des Todes, sie gilt auch als eine Göttin der Transformation und so wiederum als Beschützerin und Mutter, die das Leben gibt. Werden und vergehen, diese beiden Aspekte bedingen sich gegenseitig.

Die Tagestemperatur ist, mit über 30 Grad Celsius, für diese Zeit außergewöhnlich hoch. Jegliche Flora ist vertrocknet, mit Staum überzogen, hat eine gelbbraune Farbe angenommen, weil es monatelang nicht mehr geregnet hat. Ich bin unterwegs mit dem Bus nach Arubot, dem Dorf in dem mein alter Freund Panta lebt. Der Localbus stoppt immer wieder, um Passagiere aufzunehmen und irgendwann gesellen sich etliche Säcke gefüllt mit Reis dazu, die im Gang aufgestapelt werden, bis sie zur Oberkante der Sitzreihen reichen. Eine ökonomische Ausnutzung der Transportkapazität ist auf jeden Fall gegeben. Eine gewisse stoische Gleichgültigkeit ist von Nutzen, die Fahrt zu ertragen. Unzählige Kehren schraubt sich der Bus, dicke schwarze Schwaden von Ruß ausstoßend, einen Berg hinauf. Nach jeder Kurve werden Gefährt und Insassen von dichten Schwaden, die eine Mischung vom gelben Staub der Piste vermischt mit dem schwarzen Rußpartikeln von verbranntem Diesel, eingehüllt. Da fast alle Scheiben nicht intakt sind, dringen die Staubwolken in das Businnere und ich bin froh eine Schutzmaske zu tragen. Dann endlich bin ich am Ziel. Acht Stunden Fahrt wurden benötigt, um das Dorf Arubot zu erreichen, obwohl es sich nur knapp hundert Kilometer von der Hauptstadt Kathmandu entfernt befindet. Wieder einmal war der Weg das Ziel. Der Gang mit Panta am nächsten Tag durch das kleine Bergdorf offenbart die Erdbebenschäden. Kaum ein Haus, welches keine Risse aufweist – einige davon sind einsturzgefährdet. Die Schule ist komplett zerstört. Erst vor ein paar Jahren wurde sie mit Hilfe japanischen Spenden errichtet. Zelte, die vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geliefert wurden, sind unbrauchbar, da sich bereits nach kurzer Zeit ihre Außenhaut durch UV-Licht und den Witterungsbedingungen, die während des Monsun herrschten, auflöste. Immer noch hausen einige Dorfbewohner in selbst gezimmerten Hütten aus Wellblech und Bambus. Die Zisterne, die sich im Garten hinter Pantas Haus befindet, ist so stark beschädigt, das sie kein Wasser mehr speichern kann. Jeden Tag steigt Nirmal, Pantas älterer Bruder, den steilen Berg hinab zum Fluss, füllt viele Plastikflaschen mit dem Wasser des Sun Kosi und trägt sie mühsam mit seinem Doko, den aus Bambus geflochten traditionellen Korb, den er mittels Schulter- und Stirnriemen auf dem Rücken trägt, wieder den Berg hinauf.

Mit einem Gebetsschal aus weißer Seide, der Khata, welcher mir von Samita, der Frau des Hauses, zum Abschied um den Hals gelegt wird, verlasse ich das Dorf wieder mit dem Bus.

Die Hoffnung auf eine angenehmere Rückfahrt wird je zunichte gemacht, da dieser Bus – gefühlt – über keine Stoßdämpfer verfügt. Hinter mir knallt es ständig, da ein paar Schulmädchen einen Wettbewerb austragen, welche von ihnen die größte Kaugummiblase erzeugt. Beim nächsten Stopp steigen vier fröhlich meckernde Ziegen in den Bus, die dermaßen selbstbewusst wirken, als wäre es eine tägliche Routine für sie. Die Fahrt wird von wilden Rhythmen indischer Bollywood-Musik begleitet und zwar in einer Lautstärke, dass die gigantischen Lautsprecherboxen, die sich im Fahrerbereich befinden, an ihre Leistungsgrenze kommen. Offenkundig ist der Busfahrer in seine Hightech-Hupe verliebt, da er diese so oft als möglich bemüht und die damit in eine „Dezibel-Competition“ mit den Lautsprecherboxen angetreten ist. Das auditive Entertainment ist somit voll ausgeschöpft. Bunt und eindrucksvoll wird diese Fahrt in Erinnerung bleiben. An prägnanten Erlebnissen mangelt es nicht in diesem beeindruckenden Land. Man muss nur bereit sein diese täglichen Geschenke als solche zu erkennen und wertzuschätzen. Durch eine geänderte Sichtweise können Dinge, die bislang für Kleinigkeiten gehalten wurden, plötzlich eine große Bedeutung bekommen und Dinge, die vormals absolut wesentlich erschienen, können auf einmal völlig bedeutungslos werden. Überall ist Wunderland.

Als ich wieder zurück in der nepalesischen Hauptstadt bin, setze ich meine Erkundungen zu Fuß und durch schmale Gassen fort und finde mich erneut auf dem quirligen Markt Asan Tole wieder. In der Mitte des Platzes befindet sich ein kleines steinernes Becken, ein Schrein, indem sich der Nyālon, ein steinerner Fisch, befindet. Dieser soll einst, so erzählt es eine Legende, vor langer Zeit und während eines heftigen Regens vom Himmel gefallen sein. Seit einer Ewigkeit ruht er an diesem Platz. Betrachtet man ihn innig und lange genug, kann der Eindruck entstehen, dass sich hier niemals eine Katastrophe ereignet hat, alles schon immer in einem Zustand der Friedfertigkeit war und dieser Zustand auch für alle Ewigkeiten so anhalten wird.

© Peter Christmann