Die Kunst der Balance und ihr Ende – Schiffskörper und ihre Strandung

Zum Befahren der See ist Technik nötig. Das griechische „technae“ steht gleichermaßen für die Kunst und für die Fähigkeit, die Natur zu überlisten. Man setzt auf Tricks und nutzt Phänomene, die aber nur unter bestimmten Voraussetzungen wirken. Technik stellt solche besonderen Voraussetzungen her, erzeugt die eigentlich „unwahrscheinlichen“ Konstellationen, unter denen etwas funktioniert. So beherrscht ein Schiff die Kunst der Balance. Gewicht und Volumen verhalten sich gegenüber dem Wasser so, als handle es sich um einen Körper von nur geringer Dichte und schwimmen. Das Wasser wirkt auf das ein, was sich ihm als Form präsentiert. >>>

Schiffs-Körper nutzen das balancierende Spiel der Auftriebskräfte. Eine Neigung zur Seite ruft größere Auftriebskräfte am eintauchenden Volumen hervor, die den Rumpf wieder aufrichten. Je stärker sich der Körper neigt, desto größer müssen diese rückdrehenden Kräfte sein. So darf das Unterschiff nicht zu rund sein, nicht etwa tonnenförmig; Das könnte kippen, ohne stabilisierende Widerstände zu provozieren. Die Kastenform ist stabil: Am seitlichen Volumen wirken schon bei kleinen Krängungen stärkere Auftriebskräfte. Die stabilisieren den Rumpf, zumal sie mit großem Hebelarm angreifen. Auf offenem Meer jedoch, bei Seegang, wird der Kasten zur Tortur, denn auf jede Welle, die das Schiff hebt, folgt ein heftiger Schlag, wenn der flächige Rumpf zurückfällt. Also formt man den Körper in Bugnähe als ein „V“, so daß er weich eintauchen kann. Mit der nuancierten Form ist das Geschick des Schwimmens geprägt.

Wird ein Schiff auf das Ufer geworfen, so wandelt sich die Kunst der Balance in sprödes Aufliegen, in harsche Berührung mit Sand, Stein oder Schlick, der unter dem Druck leicht nachgibt. Über die Lage des Körpers entscheidet nun die Art der Berührung zwischen Boots-Form und Grund. Ein allzu runder Körper würde auch hier instabil und zur Seite rollen. Die Lage des gestrandeten Schiffes bestimmt sich mit den aufliegenden Flächen in Nähe des Schwerpunktes. In deren Winkel sitzt das Schiff auf. Und ein hochragender, schlanker Bug kann seine Position nur halten, weil er vom Rumpf gestützt wird. Es kommt zur Zer-Setzung. Stahl rostet, Holz verwittert, der Körper zerfällt. Die sich aufweichende Statik des Skeletts kontrastiert mit dem leicht umspülenden Wasser. Wieder sichtbar werden jene Teile und Konstruktions-Prinzipien, die einmal maßgeblich waren. Mit diesem Einblick scheint sich der Kreis zu schließen: Die einst zeitgemäße Bauweise und der jetzige Zerfall in rippige Teile finden assoziativ zusammen. Die Struktur legt sich von selbst ab. (Und die Kunst vergeht.)

Ein Fahr-Zeug leistet aber mehr als nur eine List, als nur einen Kunstgriff. Es stellt für den Menschen eine mehrfache Belebung dar: Es ermöglicht Gleiten und Fahren und verkörpert etwas Wesenhaftes. Es bündelt Funktionen mit Visionen und spielt ästhetisch mit dem Leib-Seele-Thema. Es scheint mehr zu sein als nur Werkzeug. Seine Gestalt bündelt Bedeutungen, bannt Zweifel, gibt Orientierung. Die noch intakte Form schwimmt auf und fasziniert als Kunst-Körper. Umso mehr irritiert schließlich das Skelett und erinnert den Menschen an die eigene Konstruktion.

Mit dem Stranden löst sich das Schiff von der Rationalität seiner Aufgabe. Der zuvor straffe, symmetrische, geordnete Körper gibt sich dem allmählichen Prozess hin, der Stringenz und Struktur der Zwecke zersetzt. Er dekonstruiert ihn als Objekt, in seiner Funktion und in seiner Bedeutung, belässt nur Fragmente. Mit dem Verlust der Bewegungsfähigkeit entgleitet dem Schiff seine aktive Rolle, nicht aber seine Geschichte. Die Bedeutung des fahrenden Schiffes klingt nach und rührt uns weiter an.

Für die Fischer ist es eine traurige, aber auch pragmatische Verabschiedung vom Boot. Die „Cemetière des Bateaux“, die bretonischen Schiffsfriedhöfe, sind Orte der Ruhe. In abgelegenen Buchten überläßt man die Rümpfe sich selbst. Im einsamen Island, wo ein Stahlrumpf vom Seegang abrupt auf einen Felsen geworfen wurde, klingt die tragische Gegebenheit nach. Diese Szenerien wirken wie Bühnenbilder, die nicht mehr bespielt werden, aber den Betrachter inspirieren, eine Geschichte zu erahnen. Es ist die Festlegung des Schiffs-Körpers auf einen Ort. Die Identität des Schiffes scheint sich zu lösen, die Identität des Ortes scheint fixiert. Welche Bedeutung ein Ort hat, wird ihm gesellschaftlich zugeschrieben. Diese Topoi sind allerdings geprägt durch die Zuweisung von Nicht-Aktivität.

Diese Orte an des Gewässers Berandung sind kaum anders zu nutzen, als daß man die Bootskörper dort verrotten läßt. Die Spezifik des Ortes ist entschieden. Anderes kann kaum geschehen. Schweifende Blicke zerstreuen sich in Details und belassen das sich in Wahrnehmung befindende Subjekt. In der Abgeschiedenheit atmet eine Ruhe, die Zeit in sich selbst zu geben scheint. Präsenz in sich. Man ist schlicht dort. Die nahen, sich kräuselnden Wellen benennen die streifende Zeit im Feinen, stimmen die Klänge des Moments und geben Bilder des nuanciert strukturierten Zeitenlaufs. Worum andernorts (in den Städten) aufwendig mittels Maschinen und Projektoren gerungen wird, gelingt hier mühelos: Zeitliche und räumliche Wahrnehmung kommen zusammen, treffen sich in absichtsloser Ruhe. Also, in dialektischer Weise, birgt die zunächst spezifisch erscheinende Bestimmung dieser Orte Offenheit mit sich, Raum für Projektionen. Kleine Bewegungen finden sich, gelingen selbstverständlich.

Die Metapher des fahrenden Schiffes steht nicht zuletzt für die moderne Gesellschaft. Und die Geschicke formen sich mit den Menschen an Bord. Sie eint der gemeinsame Kurs und der kann nur langsam verändert werden. Das Bild der sinkenden Titanic schockiert und steht für einen tödlichen Irrtum. Das Bild diverser gestrandeter Boote stimmt eher nachdenklich und gibt Anlaß zur Reflexion. Das Meer bietet einen universellen Bezug, Imagination des Zeitenstroms, Sehnsüchte, Projektionen. Mit Aufgabe der Balance auf dem Wasser löst sich das Schiff von seiner Aufgabe der Funktionserfüllung. Ein anderes Gleichgewicht stellt sich ein, das frei ist von Absicht und belässt, was sein mag.

Dr. Ralf Trachte, Design-Wissenschaftler, Segler, Surfer, Wellenreiter

Die „Cemetière des Bateaux“, die bretonischen Schiffsfriedhöfe, sind Orte der letzten Ruhestätte in abgelegenen Meeresbuchten, wo man die einstigen Fischereifahrzeuge ihrem Schicksal und Zerfall überlässt. Aufgrund des großen Tidehub sind etliche „Schiffsruhestätte“ dort nur während der Ebbe sichtbar. An den einsamen Küsten Islands, im Nordatlantik, wo der Rumpf eines Trawlers durch einen Orkan abrupt auf einen Felsen geworfen wurde, lässt sich die tragische Geschichte der Havarie oft erahnen.

Über viele Jahr habe ich an der bretonischen und isländischen Küste nach Schiffswracks gesucht und diese fotografisch dokumentiert. Die meisten Wracks sind nicht mehr vorhanden, sind dem Recycling zum Opfer gefallen oder von den Kräften der Natur endgültig aufgelöst worden.

Peter Christmann, Fotograf